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«Jodeln tut allen gut»

Für die Klangwelt Toggenburg führen sie Menschen verschiedenster Couleur in die Welt des Naturjodels ein. Die beiden staunen dabei immer wieder, welche grossen Emotionen diese urtümlichen Klänge auslösen.

Beyond Tradition – Kraft der Naturstimmen

Im Oktober 2023 kommt ein Stück internationaler Naturjodel ins Kino: Im Film «Beyond Tradition» tauscht sich der Appenzeller Meinrad Koch, ehemaliger Sänger vom Hitzigen Appenzeller Chor, in Norwegen mit einer «Joikerin» über ihre jodelartige Gesangskultur aus. In Georgien trifft er eine Musikstudentin.

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Ganz anders als im Loriot-Sketch «Die Jodelschule» sind die Naturjodelkurse der Klangwelt Toggenburg überhaupt nicht schulmeisterlich und theoriebeladen. Die Kurse richten sich an Menschen, die von sich sagen «ich kann nicht singen», an solche, die leidenschaftlich gerne in der Dusche vor sich hin trällern, an Zurück[1]haltende, aber auch an Selbstbewusste. «Jodeln tut allen gut», sind Annelies Huser-Ammann und Doris Ammann überzeugt. Das «Johle und Gradhäbe» hat die beiden Frauen in ihrer Kindheit im Obertoggenburg geprägt und nie mehr losgelassen. Regelmässig bringen sie Jung und Alt, Landeiern und Stadtmenschen in der Klangwelt Toggenburg in Alt St. Johann das Naturjodeln näher.

Annelies und Doris, ihr gebt nicht nur Jodelkurse für Laien, sondern habt Jodelchöre geleitet und singt selbst in unterschiedlichen Formationen mit. Kann jede und jeder jodeln lernen? Doris: Im Klangwelt-Jugendchörli, das ich leitete, gab es ein Mädchen, das im Kinderchor noch als Brummlerin galt. Zu hören, wie sie plötzlich sicher und viel selbstbewusster sang, war sehr berührend. Von daher glaube ich, dass mit genügend Training und Zeit viel erreicht werden kann. Man sollte deshalb nie jemandem sagen «Du kannst nicht singen». Annelies: Das kann ich nur unterstreichen. Auch wenn das «Johle» sicher solchen, die schon seit der Kindheit mit den Klängen vertraut sind, etwas leichter fällt, lassen sich «Zäuerli» oder «Rugguuseli» mit Übung und Geduld lernen.

Das «Johle», «Zäuerle» oder «Rugguusele» kommt ohne Notenblätter und Text aus. Sind nicht gerade Laien ohne diese Orientierungshilfen aufgeschmissen? Annelies: Beim Johlen und «Gradhäbe» gehen meiner Meinung nach über 50 Prozent über das Gehör. Es muss deshalb nicht nur die Stimme, sondern ebenso auch das Ohr für diese speziellen Klänge geschult werden. Doris: Da beim «Gradhäbe», dem Bilden des Klangteppichs beim Jodeln, lediglich zwischen zwei, drei Tönen gewechselt wird, sind Erfolge bei den meisten schnell da. Das Abnehmen eines Tones ist aber dennoch nicht selbstverständlich. Neben dem Zuhören ist beim Naturjodeln zudem elementar, dass man sich öffnet und nicht angespannt ist.

Apropos Anspannung: Eure Kurse werden oft von Firmen als Teambildungsmassnahme gebucht. Hat es dabei auch solche dabei, die im Sog des Gruppenzwangs widerwillig zum «Johle» verknurrt werden?
Annelies: Die gibt es tatsächlich. Aber es sind gerade die anfangs Unmotivierten, die mich anstacheln. Wir haben noch jeden geknackt, gell Doris? (lacht)
Doris: Du gibst beim «Johle» sehr viel Persönliches preis und das fällt nicht allen gleich leicht. Wenn es dann aber so weit ist, zeigen sich oftmals unerwartet starke Emotionen, die auch mich als Kursleiterin sehr berühren. Annelies: Gerade bei unseren Wochenendkursen erlebe ich es immer wieder, wie bei vermeintlich abgeklärten Männern und Frauen die Dämme brechen und sie beim «Johle» Tränen in den Augen haben.

«Zu hören, wie sie plötzlich sicher und viel selbstbewusster sang, war sehr berührend.»

Jodeln scheint demnach gut für die Psychohygiene zu sein. Was löst bei euch persönlich das Singen aus?
Annelies: Früher sang ich auf meinem einsamen Schulweg in Unterwasser oft, wenn ich im Dunkeln Angst bekam. Auch heute noch entspannt mich das «Johle» enorm. Wenn ich vor einer Probe müde und lustlos bin, fällt das spätestens nach dem Einsingen von mir ab und ich fühle mich einfach glücklich und zufrieden. Doris: Bei mir ist es ganz ähnlich. Gerade an Tagen, die nicht so toll verliefen, ist eine Chörliprobe abends der beste Seelenbalsam.

Wieso weckt das Naturjodeln solche starken und positiven Emotionen?
Doris: Ich vermute, es hat mit der Einfachheit dieser Singweise zu tun. Der Naturjodel ist sehr reduziert. Die Melodien haben oft ähnliche Harmonien wie bekannte Kinderlieder. Du musst dabei nicht komplizierte Tonabfolgen und Textstrophen im Kopf haben, sondern dich voll und ganz auf das aufeinander Hören fokussieren. Der Alltag wird ausgeblendet. Das tut gut und wirkt befreiend. Singen ist zudem sehr verbindend. Es sorgt innert Kürze für ein wunderbares Zusammengehörigkeitsgefühl.
Annelies: Ich habe schon oft beobachtet, wie Sängerinnen und Sänger mitten in einem voll besetzten Restaurant am Tisch sitzen und alle Nebengeräusche beim «Zäuerle» oder «Rugguusele» so ausblenden können, dass sie wie hypnotisiert sind. Dass schafft in dieser Intensität wohl kaum eine andere Gesangsart.

Eine weitere Eigenheit des Naturjodelns ist, dass die Lieder mündlich überliefert und beim Einüben lediglich direktes Vorsingen oder Tonaufnahmen zur Hilfe genommen werden. Wie könnt ihr euch dabei die vielen unterschiedlichen Melodien merken?
Annelies: Das wird tatsächlich immer schwieriger. Ich schreibe mir deshalb bei manchen Naturjodeln als Gedankenstütze die ersten Tonsprünge auf.

Seit einigen Jahren kann man an der Hochschule Luzern das Hauptfach «Jodeln» belegen. Wie steht ihr zu solchen Entwicklungen?
Doris: Ehrlich gesagt habe ich dabei zwiespältige Gefühle: Einerseits rücken solche Angebote das Jodeln ins Rampenlicht und motivieren neue, auch jüngere Menschen. Andererseits wird beim Naturjodeln immer mehr temperiert gesungen. Damit geraten die Zwischenlagen und der damit einhergehende typisch naturtönige Klang zunehmend in Vergessenheit.
Annelies: Ich teile diese Sorge. Ein typisches Alleinstellungsmerkmal für das Naturjodeln ist der abrupte Kehlkopfschlag. Bei Sängerinnen und Sängern mit einer klassischen Ausbildung beobachte ich, dass sie diesen Übergang von der Brust- in die Kopfstimme sanfter und mit weniger Druck gestalten. Diese Technik ist stimmschonender, aber im Klang nicht mehr ganz das Ursprüngliche, das wir in die Wiege gelegt bekamen.

«Rugguu(s)seli»

«Rugguuseli» nennen die Innerrhoder den Naturjodel, der ohne Worte auskommt.

«Zäuerli»

Während beim Innerrhoder «Rugguuseli» nur eine Solostimme vorkommt, sind es beim Ausserrhoder «Zäuerli» gleich deren zwei – einem Vor- und Nachzaurer.

«Johle»

Im Toggenburg wird als Verb für den Naturjodel das etwas despektierlich anmutende «Johle» verwendet.

Jodlerinnen_Annelies_Doris_Scheinwerfer

Ursprung des Naturjodels

Der Ursprung der appenzellischen und toggenburgischen Volksmusik ist der Naturjodel. Diesen nennt man in Innerrhoden «Rugguuseli», in Ausserrhoden wird ein «Zäuerli» angestimmt und im Toggenburg heisst es «johle». Manchmal werden die Naturjodel von «Schelleschötte» oder Talerschwingen begleitet.

Über die Entstehung gibt es mehrere Hypothesen. Weit verbreitet ist die Ansicht, dass die Menschen in den Bergen durch Jodelrufe Informationen ausgetauscht hätten. Die spezielle Gesangsform, bei der kunstvoll zwischen Brust- und Falsettstimme gewechselt wird, findet man auch bei Pygmäen im Kongo oder in Indonesien. Ebenfalls als «Jodeln» werden textfreie Gesangsformen in Skandinavien, bei den Inuit und in Osteuropa bezeichnet.

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde das Jodeln zunehmend politisch instrumentalisiert. So galt in Österreich das Singen und Jodeln während des Nationalsozialismus als patriotische Gewissenssache und als Ausdruck der «arischen» Herkunft. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Naturjodel zunehmend unpopulär und oft belächelt. Mittlerweile hat er seine kulturelle Bedeutung zurückerlangt und ist beliebter denn je.

Beyond Tradition – Kraft der Naturstimmen

Im Oktober 2023 kommt ein Stück internationaler Naturjodel ins Kino: Im Film «Beyond Tradition» tauscht sich der Appenzeller Meinrad Koch, ehemaliger Sänger vom Hitzigen Appenzeller Chor, in Norwegen mit einer «Joikerin» über ihre jodelartige Gesangskultur aus. In Georgien trifft er eine Musikstudentin.

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