Sylvester-Phantasie vom Säntis. In Verhinderung und infolge Aufmunterung von Jules Verne, der zwar sein Interesse dem Säntis bereits zugewandt hat, der aber soeben von einer Reise nach dem Planeten Mars zurückgekehrt ist, so dass seine ingeniöse Feder vollauf mit der Schilderung seiner Erlebnisse unter einer dort neu entstandenen Menschheit zu tun hat – beehre ich mich, den geneigten Lesern von den Wundern zu erzählen, die ich auf dem Säntis bei einem Ausfluge angetroffen, den ich an der Grenzscheide des 19. und 20. Jahrhunderts dorthin ausgeführt.
Das verfeinerte Nervensystem eines Hochalpenklubisten findet zwar die köstlichsten Reize in einer Winterpartie auf den Säntis entweder über die verschneite Schrennernwand, wo man den prickelnden Hochgenuss hat, zu denken, dass man keinen Augenblick vor dem Niedersturz in den Seealpsee sicher ist – oder mit Schneereifen à la Norweger über die Altenalp, wo man in Lawinen, die vom Schäfler und den Türmen sich herniederwälzen, jederzeit ein weichgebettetes Grab finden kann; allein gewöhnliche Menschenkinder ziehen im Winter bei Windstille und klarer Luft das Luftschiff und bei allfälligem Nebel und Sturm die elektrische Bahn vor, zwei gleich sehr Vertrauen einflössende Beförderungsmittel.
In Wasserauen stieg unsere muntere Gesellschaft in einen hocheleganten Alpen-Pullmann (1) und wir gelangten bald beim Seealpsee an, auf dessen Eisspiegel wir uns eine Stunde dem Vergnügen des Schlittschuhlaufens überliessen. Wäre nun das Wetter hell geblieben, so hätten wir Billetts für das Luftschiff gelöst, welches, durch ein festes Seil mit Rolle einem Geleise entlanglaufend, vom Seealpsee nach der Meglisalp und von da über den Hundstein und Altmann nach dem Säntis führt und auf dieser Fahrt einen brillanten Überblick der Säntiskette bietet. Da aber Nebelbildung erfolgte, so entschlossen wir uns für den Aufstieg auf elektrischem Wege.
Auch hier hatten wir die Wahl zwischen zwei Zweiglinien, deren eine vom reizenden Seealphotel über die Hängeten, den Hühnerberg und die Gyrenspitze, die andere der Rossmadwand entlang auf den Säntis führt. Kühner als die Auffahrt von Seealp auf den Hängetenkamm ist nicht einmal die Rigibahn, und auf den Hängeten hat man oft das namentlich für Jäger pikante Vergnügen, dass die Gemsen bis an die Waggons herankommen, um den Passagieren Leckerbissen aus der Hand zu nehmen. Bei Sturm ist aber diese Passage etwas gefährlich und bei Nebel nicht lohnend. Darum hiess es: «Einsteigen Säntis via Rossmad!»
«Allein gewöhnliche Menschenkinder ziehen im Winter bei Windstille und klarer Luft das Luftschiff und bei allfälligem Nebel und Sturm die elektrische Bahn vor.»
Vom Seealpsee aus bildet die Rossmad nordwärts gegen den Messmer eine senkrechte Wand, die mit einer einzigen Unterbrechung (der Wagenlücke) sich nach dem Säntisgipfel zieht. Sich über das unpraktische Projekt einer freiliegenden Linie und das kostspielige eines Tunnels mit gleichem Genie hinwegsetzend, ist ein Techniker auf den glücklichen Gedanken gefallen, in dieser Felswand eine Galerie aussprengen zu lassen, dieselbe auf der offenen Nordseite durch eine eiserne Glasgitterwand abzuschliessen und darin den kleinen elektrischen Train mit einer Sicherheit auf den Säntis zu führen, die selbst bei einem Orkan nichts zu wünschen übriglässt. Nur zuoberst geht die Linie durch einen ganz kurzen Tunnel zwischen dem Gipfel und dem Gasthause durch und bequem stiegen wir vor letzterem aus.
Schon bei der Wagenlücke hatten wir das prächtige Schauspiel erlebt, auf einmal über den Nebel emporzusteigen. Gegen Norden nur durch den klar blauen Himmel abgegrenzt, erschien seine gekräuselte Oberfläche wirklich als ein Meer. Die Spitze des Speer bildete darin als schwarzer Punkt ein Riff und die Churfirsten und die Alviergruppe schauten als Inseln hervor, indes der Hochalpenkranz sich strahlend entfaltete. Wenn uns nun auch die Auffahrt nicht strapaziert hatte, wie ein Aufstieg zu Fuss mit hüfttiefem Schneewatten, so machten sich bei uns doch die Nachwirkungen des Schlittschuhlaufens geltend und wir bestellten daher im komfortablen Säntisrestaurant ein Diner mit Forellen, welche noch lebend mit uns vom Alpsee herauf gefahren waren. Während es zubereitet wurde, benützten wir das gelegene Weilchen, um mit den Unsrigen zu Hause zu sprechen. Das Telefon klingelte und der Reihe nach unterhielt sich der Eine mit seinem Freunde in Chur, der Andere mit seiner getreuen Ehehälfte in St.Gallen, der Dritte mit seinem Bräutchen in Zürich und der Vierte, ein Weizengrosshändler, mit seinem Kommissionär in Romanshorn.
Unsere Forellen verzehrend, die uns deliziös mundeten, wunderten wir uns, im Wirtssaal keinen Ofen zu sehen, da wir doch eine sehr behagliche Wärme empfanden. Noch höher stieg unser Erstaunen, als wir in der Küche, wo aufs Emsigste gesotten, gekocht und gebraten wurde, weder Rauch noch Feuer bemerken konnten. Das Rätsel löste sich dahin, dass die gesamte Heizung und Beleuchtung elektrisch ist, das zu vernehmen uns punkto Brandgefahr zu grosser Beruhigung gereichte. Die mechanische Kraft, die zur Umsetzung in Elektrizität nötig ist, wird natürlich vom Wind resp. Sturm geliefert. Eine enorme Anzahl durch den Wind geladener Akkumulatoren dient nicht bloss als elektrisches Kraftreservoir für den Bedarf des Hotels, sondern bewegt auch den elektrischen Bahnzug und wird verwendet, um bei Nebel und in finsterer Nacht die Schneefelder und Zuwege des Säntis zu beleuchten. Es gibt nichts Pittoreskeres als die elektrische Riesenlampe auf dem Säntisgipfel, deren blendender, weitreichender Lichtkegel bald auf den blauen Schnee fällt, wo ein paar verspätete Touristen wie die Ameisen heraufklimmen, bald eine bengalische Beleuchtung oder ein künstliches Alpenglühen an die Wände des Altmann hinzaubert, bald auf den Seealpsee oder selbst in die Ebene hinabgleitet oder auf einmal ein beliebiges Dorf mit Tageshelle nächtlicherweile übergiessend.
Dass der Säntis mit einer pneumatischen Post ausgestattet ist, bemerkten wir erst im Telegrafenbüro, das zugleich Postbüro ist. Das luftdichtschliessende Stahlrohr läuft vom Seealpsee aus in der Rossmadgallerie und die Luftentleerung desselben wird durch die Säntis-Dynamomaschine besorgt. Durch den einseitig einströmenden Luftdruck bewegt, befördert der Postzylinder in dem fünfzehn Kilometer langen Rohre von Appenzell auf den Säntis mit fabelhafter Geschwindigkeit Briefe, Zeitungen, frische Gemüse und Leberli, selbst Werthsendungen, falls ein Tourist in jenen Höhen am nervus rerum (2) auskommen sollte. Nun begriffen wir, wie es möglich sei, am Morgen zum Frühbierfrische Bretzel zu haben, während auf dem Säntis keine Bäckerei besteht.
«Die mechanische Kraft, die zur Umsetzung in Elektrizität nötig ist, wird natürlich vom Wind resp. Sturm geliefert.»
Was die meteorologische Station anbelangt, so übertrifft ihre Ausstattung nun Alles, was in dieser Beziehung zu leisten möglich ist. Mit Hilfe der Elektrizität und Photographie werden von selbst registrierenden, permanent wirkenden Apparaten die Veränderungen aller nur denkbaren Luftzustände und Naturkräfte zu Papier gebracht zum Entzücken aller Forscher, die sich in ein solches Tabellenmeer mit wahrem Heisshunger hineintauchen, um nach geraumer Zeit mit irgendeinem neu entdeckten Naturgesetze wieder zum Vorschein zu kommen. Die Barographen(3), Thermographen (4), Hygrographen (5), die Elektrometer (6), Magnetometer (7) etc., sind in einer leicht zugänglichen Nische untergebracht, welche auf der Nordseite des Gipfels in denselben eingehauen ist, und auf der Spitze selbst interessierte mich ausser der als Geländer darum herumgehenden immensen, fein gearbeiteten Panoramatafel vor allem das Nephoskop (8), ein Apparat, der von 5 zu 5 Minuten ein Bild des Himmels fixiert und so für meteorologisches und artistisches Wolkenstudium ein unschätzbares Material liefert. Von grosser Bedeutung sind auch die Messungen der Lufttemperatur in der Höhe der Atmosphäre vermittelst Ballon Captif (9).Einen Thermographen (ein selbstrotierendes Thermometer) enthaltend, schwebt, wenn immer der Wind es gestattet, an sicherer Leine ein Ballon in einer Höhe von 1000 Meter über dem Säntis und seine Rotationen haben bereits die interessante, übrigens theoretisch vorausgesehene Tatsache ergeben, dass schon in einer solchen Höhe das Thermometer in der freien Atmosphäre stets gleichviel zeigt. – Zur Verfügung der Touristen steht auf der Säntisspitze auch ein terrestrisches Fernrohr von solcher Schärfe, dass man damit ganz gut erkennen kann, ob die auf dem Rosenberg ausgehängte Wäsche sauber ist oder nicht.
Eine Höhe, wie diejenige des Säntis, ist wegen der Reinheit der Luft auch besonders zu astronomischen Beobachtungen geeignet. Da aber für eine Sternwarte neben der Wetterwarte auf dem Säntis der Platz zu beschränkt ist, so findet sich die Sternwarte auf dem Altmann. Per Luftballon machten wir dort abends einen Besuch, um durch den Riesenrefraktor10 die Mondkrater, die Saturnringe, die Marsländer, die Spiralnebel in den Jagdhunden und ähnlichen Merkwürdigkeiten zu betrachten. Für die Standsicherheit des Altmann-Observatoriums braucht Niemand in Sorgen zu leben, da dasselbe in den Berggipfel eingegraben ist und nur mit der im Kreise drehbaren Kuppel darüber hervorragt.
In das Säntishotel zurückgekehrt, fanden wir eine zahlreiche, fröhliche Gesellschaft von Damen und Herren, die mit dem Abendzuge noch angekommen waren. Ich hatte aber keineswegs den Humor für eine lustige Silvesterfeier – diese Gelegenheit hätte ich im Thale zur Genüge gefunden: darum hatte ich am Neujahr den Säntis nicht bestiegen. Ich überliess es daher den Übrigen, den Jahreswechsel bei knallenden Champagnerpfropfen, bei Jubel und Toasten zu begehen. Ich schlich mich von dannen, um im Eispalaste im Blauen Schnee eine einsame Neujahrsnacht zuzubringen. Ich liess mich vom Grate aus durch den Elevator in die 150 Meter tiefe Schlucht hinabbefördern und betrat als einziger Besucher die künstliche, in den Gletscher gemeisselte, extra für mich elektrisch beleuchtete Grotte. Die Gänge, die Galerien, die Säulen und Tropfgebilde verbanden sich zu einer feenhaften Architektur, krystallhell glänzend und blitzend – grelle Lichter neben schwarzen Schatten – und ein dumpf hallendes Echo antwortete auf meinen Ruf. Dies war die Umgebung, die meiner trüben Neujahrsstimmung entsprach; ich entkorkte die mitgenommene Veuve Clicquot, liess mich an einem Felsentische nieder und versank in ein melancholisches Sinnen. Ich starrte in den teils von Menschenhand, teils von der Natur geschaffenen Zauberbau hinein und malte mir mit wildem Behagen die Lage aus, in welcher ich mich befände, wenn derselbe plötzlich über mir einstürzte – ich gedachte der heute gesehenen technischen Wunderwerke und rief höhnisch: Wozu dies alles? – Ich gedachte der Menschen, die im Thale drunten die Mitternachtsstunde vielleicht ebenfalls sinnend verbrachten, stolz über errungene kleinliche Ziele, erfreut über ihre Siege in ihren nichtigen Kämpfen und ich rief höhnisch: Wozu dies alles? … Die eisige Kühle meines Aufenthaltes drang mir bis ins Herz hinein, die Schauer des Nichtseins umwoben mich in wirren Träumen – ich musste lange geschlafen haben – ich erwachte endlich frostgeschüttelt. Als ich den Eispalast verliess, tagte es draussen. Mit dem Rest von Belebtheit, der in meinen Gliedern übrig war, erkletterte ich die Gyrenspitze. Das Nebelmeer war verschwunden, die Sonne erhob sich leuchtend über die Vorarlberger Spitzen, ein herrlicher Neujahrsmorgen breitete sich über die Welt aus. Von der Säntisspitze herüber erschollen fröhliche Männerstimmen und das Gekicher der in Teppiche gehüllten Damen. Ich eilte zu ihnen hinüber, froh, wieder Gesellschaft zu finden. Froh, beim dampfenden Kaffee zu erwärmen und gerne wieder zu Thale steigend, um nicht neuerdings in den Strudel des Lebens zu stürzen, – mitringend, mitstrebend, mitgeniessend.
Glossar
1 ein luxuriös ausgestatteter Schlaf-, Speise- und Salonwagen für Fernzüge der Eisenbahn
2 das Geld
3 Messgerät, das den zeitlichen Verlauf des Luftdrucks aufzeichnet
4 Messgerät zur Erfassung und Aufzeichnung der Temperatur in einem kontinuierlichen Verlauf
5 Messgerät zur Erfassung und Aufzeichnung der Luftfeuchtigkeit in einem kontinuierlichen, zeitlichen Verlauf
6 Messgerät zum Nachweis elektrischer Spannungen und Ladungen
7 Messgerät für magnetische Flussdichten
8 Messgerät zur Bestimmung einiger Eigenschaften von Wolken
9 Fesselballon
10 das grösste Riesenfernrohr in der Sternwarte
Luftseilbahnen im Alpstein
Die Älteste
Die Säntis-Schwebebahn ist die älteste und längste im Bunde der vier grossen Luftseilbahnen im Alpstein: Sie wurde von 1933 bis 1935 von der Leipziger Bleichert Transportanlagen GmbH erstellt, hat eine Länge von 2307 Metern und überwindet innerhalb von 10 Minuten einen Höhenunterschied von 1123 Metern.
Die Jubilarinnen
Im Frühling vor 60 Jahren lief der zeitgleiche Bau der beiden Seilbahnen Kronberg und Hoher Kasten auf Hochtouren. Das Wetteifern der beiden Projekte endete am 18. Juli 1964, als die Kronbergbahn ihre Jungfernfahrt feierte. Drei Wochen später, am 11. August 1964, nahm die Kastenbahn ihren Betrieb auf.
Die Kürzeste
Die kürzeste der vier Luftseilbahnen im Alpstein ist die Luftseilbahn Wasserauen-Ebenalp. Während der sechsminütigen Fahrt überwindet die 1955 eröffnete Bahn 686 Höhenmeter. Die Seilstrecke beträgt 1514 Meter.
Nicht zu vergessen sind die etwas kleineren Seilbahnen im Alpstein, welche ebenfalls Gäste in die Bergwelt transportieren: die Seilbahnen Staubern und Alp Sigel